SHANGHAI, 17.20 UHR,

VERABREDUNG MIT M. E. PRIGGE

Meiner Erinnerung nach war es im Sommer gewesen, kryptische Eintragungen des inzwischen veralteten Kalenders bestätigen dies: Juni, in Begleitung eines Sammlers (eigentlich Druckgrafik oder eher doch zur Malerei schwankend?) erweckte die Zwischenstation am gar nicht mehr wie gewohnt mäandernden Lauf der breiten Donau zunächst den Eindruck das Ende der Welt sei erreicht. Auch in den Kreuzgratgewölben dort fand eine Ausstellung von ihr statt. Wenige Kilometer später fing die Welt – weiter geworden – wieder an: Salzburg. Spätestens jetzt würde mir Maria Elisabeth Prigge widersprochen haben.

Angekommen zeigt sie Arbeiten, die sie längst in einer Vorvergangenheit verschwunden glaubt, wieder hervorgehoben, Lichtzeichnungen, Erzählungen von Arbeitsorten und Bedingungen, und wie immer: der Versuch (m)einerseits, Biografisches auszublenden, nur dem Bild, Bild genannt, zu trauen. Dennoch: Die Lichtspuren einer Langzeitblendenöffnung verbinden sich in der Erinnerung, Einbildung, mit den Bändern, Wegeschleifen der großformatigen Holzschnitte auf Leinwand. Aus den schwarz eingestrichenen Flächen der Holzplatten strahlt die herausgeschnittene Zeichenspur ohnehin abseitig hell. Wer aber zeichnet auf, verfasst die Werkverzeichnisse, notiert, erfüllt den Anmerkungsapparat mit Leben?
Sie bevorzugt das Arbeiten, das tätig am Werk Sein und manche der vermeintlichen Dokumentatoren zeigen sich ihrer Sorgfaltspflicht überdrüssig.

Sie zeichnet mit der Natur, analog zu ihr; das Repetitorium der Zeichen neu gefasst: Birkenstämme Stricheleien, blätternder Mauerputz, malerisches Chiaroscuro, Lavagestein geschwärztes Schwarz, Irland, Lappland, Island – ein Werkstattatelier auf Fuerteventura: Grundstrukturen, Grundformen, Gründe …; kraft Abenteuer Platzanweiserin in der Mozartkugelstadt scheint mit Kundschafte(r)n, Fährtenlesen und Legen derselben inmitten einer menschenleeren Natur nicht zusammengehen zu wollen. Mit Bedacht und Argwohn müssen selbst diese Süßigkeiten versucht werden, erklärt sie. Nicht geheimnissen(!); M. E. Prigge äußerte sich dahingehend, ihre Arbeit komme nicht – das hat sich mir in eine zugegeben skriptorisch geprägte Nischenwindung des Gehirns eingegraben – in Rätseln oder Zauberformeln daher.

Die eigentliche Lebendigkeit scheint in Papier gefasst, bald auf dicht grundiertes Leinen, zuletzt im Leder von Polarwesen als Lebendiges von Tieren. Stofflich jedenfalls, lebendiges Gewebe, samten die Schwärze –­ Begegnung mit der malerischen Tiefe (des Carborundum oder dem mannigfach gebrochenen Schimmern des präparierten Bildgrundes): Filter, Schilde, Schirme. Der erst seltsam anmutende Begriff der Aufrichtigkeit gewinnt Gestalt im Tun, Zuflucht, nicht Flucht.

Fahrt von der Wohnung ins Atelier. Die Berge verengen sich zur Schlucht und stehen am Ende dicht beisammen, eigentliches Verlassensein – entgegen dem Clichée vom vereinsamten Gebirgstal des ortsunkundigen Fremden, aber lautes Kinderlärmen, Fahrräder. Läuft dennoch das Tal in einer feinen Strichkante aus?
Später. über der Bilderschau ist es dann spät geworden. Beim Hinaustreten umfängt mich Schwarz, aber ein leichteres, Schwanken, leichter zu atmen, durchdringlicher, das Schatten der Natur zuläßt, als das Changieren der vorgesehenen Blätter, Leinwände und Tafeln, das Flimmern der eingebildeten Landschaften und Figuren im Schwarzgrund, Sternenblinken, Lesart von Bildern. Beim Zurücksetzen des Wagens bezeichnet plötzlich lautes Knirschen, dass ein Felsbrocken, Mauerbegrenzung in diesem Finster im Wege stand und sich in die Karosserie als ein zusätzlicher bleibender Eindruck eingekerbt hat.

Die Dienstreise nach Shanghai – zitronengelb die Einladungskarte des holländischen Galeristen – war, wie nicht anders zu erwarten war, abschlägig beschieden worden, der Sammler mittlerweile wieder (fast) nach Hause gebracht. Am Telefon, das der Übermittlung der misslungenen Verabredung dient, legt der Sprachkörper, dem sie zu jeder Zeit den Klang ihres Nachnamens (Dehnung, Pause zwischen den Silben) zu verleihen versteht, nahe, das graphische Konstrukt einer Stimmtonkurve zu entwickeln; dies eine Authentizität allerdings, deren Eindruck nur vorgeblicher Eigenheit, Selbstsein, M. E. Prigge zu vermeiden weiß. Sie hat ihn in ihrer Bilderwelt.

Clemens Ottnad, Geschäftsführer des Kunstvereins Reutlingen, schrieb diesen Text 2002 für den Katolog ”BILDERWELTEN” von M. E. Prigge.