DENKBEZIRKE

Und in diesem Denkbezirk ist es uns möglich, zu dem Bewußtsein zu kommen, das uns außerhalb dieses Denkbezirkes unmöglich ist. In diesem Denkbezirk erreichen wir, was wir außerhalb niemals erreichen können, das Selbstbewußtsein alles dessen, das ist.“ Thomas Bernhard, DER ATEM

Bei der Betrachtung von M. E. Prigges neueren Arbeiten wird die Aufmerksamkeit zunächst ganz intensiv auf den Bildraum gelenkt: auf jenen leeren rechteckigen Raum, in den die Künstlerin Zeichen gesetzt hat. Dieser Raum ist merkwürdig unbestimmt. Er ist weder Vakuum noch definierter Bildgrund, weder durch malerische Mittel gebaute Raumfiktion, noch Fläche. Die – meist tiefschwarzen ­– Zeichen sind beziehungslos in ihn hineingesetzt, auf ihn aufgesetzt oder neben ihn angesetzt. Er könnte ”Freiraum” sein, wäre er nicht durch das Blattformat begrenzt. Er könnte ”Fenster” oder ”Tor” sein, gäbe es ein Davor oder ein Dahinter. Aber mit den Sinnen ist nichts fixierbar, der Raum ist weder zeitlich noch örtlich situiert, er ist immateriell, und nur durch die Ränder des Papiers und, in einiger Distanz durch den Bildrahmen begrenzt. Dieser Raum ist ein Ausschnitt, aber er hat nichts mit dem umliegenden Raum zu tun, er ist eine räumliche Enklave, ein Ort der Entfremdung, eine TABULA RASA. Dieser Raum ist ein Nichts, er macht keinen Sinn, er stellt eine existenzialistische Situation her. Der Betrachter hat beim Betreten dieses Raums keinerlei Verknüpfungspunkte. Er begibt sich sozusagen in eine Isolation außerhalb seiner Realität, er muss bei Null anfangen, bodenlos und orientierungslos. Seine Wahrnehmungen, seine Gefühle, seine Erfahrungen können keine Beziehung herstellen, sie lassen ihn im Stich. Da der Zugang mit dem psychisch-physischen Instrumentarium verwehrt bleibt, kann er sich diesem Raum nur durch Denken, und zwar durch radikales Denken nähern, um das Ausgestoßensein, die Entfremdung zu überwinden. Nun versucht er mittels der Zeichen in diesem Denkbezirk zu einer Orientierung zu gelangen. Diese sind gra­fische Elemente, Striche und Flächen, schwarze Farbe auf oder in diesem bodenlosen Raum. Manchmal ist es nur ein Zeichen, manchmal sind es zwei, manchmal auch drei. Manche Zeichen sind linear, d. h. der Raum durchdringt sie, andere sind tiefschwarze Flächen, d. h. sie wirken wie raumverdrängende Materie, wie dreidimensionale Objekte. Manchmal nennt die Künstlerin sie ”Dinge”, manchmal definiert sie sie als ”Gedankenbilder”. Die Zeichen sind polymorph, und sie scheinen sich im Raum zu bewegen. Der Eindruck der Bewegung wird durch die Geste, jenen Energiestrom vom Bewußtsein der Künstlerin über ihre Hand und über den Öl- oder Pastellstift auf die Papierfläche, ausgelöst. Die Zeichensetzung erfolgt zunächst nicht aus einer meditativen, reflektierten, kalkulierten Haltung, sondern aus der Ballung von Energie, die sich spontan und explosiv im Raum entlädt. Das erste Zeichen ist also die Materialisierung einer Energieentladung. Die Künstlerin katapultiert sich sozusagen in das Nichts. Die Kraft dieser Entladung ist für den Betrachter spürbar, sie strahlt in den Raum und mutiert ihn zu einem Feld, einem Bezirk. Die erste Energieladung auf dem Blatt Papier löst einen Dialog aus. Der spontanen Aktion der Künstlerin folgt ihre reflektierende Reaktion, eine Entwicklung, eine Abfolge von Positionierungen und Gegenpositionierungen, bis sich ein Gedanke materialisiert hat. Was sich auf dem Papier niederschlägt, sind elementare Lebenszeichen, die nach dem abgeschlossenen Dialog mit der Künstlerin nun den Dialog mit dem Betrachter aufnehmen. Die Zeichen sind so in die Felder gesetzt, dass eine Spannung aufgebaut, Ungleichgewicht und Unsicherheit hergestellt werden. Dabei wirken die Konturen, die Strichführung, die Form, die Dichte, die Struktur, die Position der Zeichen im Feld und ihre Stellung zueinander als vielschichtige Faktoren, welche zwar keine Bedeutung produzieren, jedoch gedankliche Abläufe beim Betrachter auszulösen vermögen. Die Zeichen erweisen sich in ihrer Vielgestaltigkeit und Ambivalenz als elementarer Ausdruck existenzieller Zustände. Vor allem spiegeln sie die fundamentale Einsamkeit des Seins wider, jenes Hineingestoßenseins in eine Leere, in ein Nichts. Sie sind aber auch Zeichen der Anstrengung, in dieser Leere Form und Haltung anzunehmen, die eigene Existenz zu behaupten. Diese Zeichen sind rudimentäre Versuche, Identität zu erringen, Beziehungen herzustellen, ein Ich zu begründen und zu behaupten. Für die Künstlerin stellt diese existenzielle Situation eine Grunderkenntnis dar, vielleicht die einzige Sicherheit im Leben. Alles andere ist unsicher, nicht real, fremd und kann nur durch Denken in Beziehung zum Ich gesetzt werden. Ausschließlich das Denken manifestiert und begründet die Existenz. Ohne Denken existiert nur der leere Raum, die Fremdheit, die Trennung, die Finsternis. Das überlebensnotwendige Denken schafft ein Bezugssystem und eine Ordnung, in der das Individium sich situieren kann. Diese Situierung gelingt aber nur in dem  Augenblick, in dem sich das Ich die Welt denkend erringt. Sobald das Denken aussetzt, stürzt das Ich wieder in das Nichts, in die Sinn- und Bedeutungslosigkeit. Es gibt diesem Raum, der die Welt ist, keine Kontinuität. Das Ich muss sich ständig neu in die Welt setzen, neu erfinden. Jedes Blatt, auf das die Künstlerin ein Zeichen setzt, dokumentiert somit einen Neuanfang, einen neuen Versuch, die Grenze zwischen Ich und Welt zu überschreiten. Albert Camus hat in ”Der Fremde” diese existenzielle Situation des Individuums in Romanform dargestellt und seinen Anti-Helden extremen Lebensbedingungen und einem totalen Identitätsverlust in der nordafrikanischen Landschaft ausgesetzt. Die existentielle Situation, die totale Verfremdung stellen sich hier durch unerträgliche Hitze und flimmernde Sonnenglut ein, welche das psychisch-physische Instrumentarium ausschalten, und das Denken zur einzig möglichen Überlebensstrategie machen. Thomas Bernhard beschrieb diese permanente existenzielle Not als Kälte: „…wohin ich gehe, die Kälte geht in und mit mir. Ich erfriere von innen heraus“ und führte sein “Alleinsein, Abgeschnittensein, Nichtdabeisein“ auf frühkindliche Katastrophen zurück, die ihn lebenslänglich zum Denken zwangen: „Es ist mir nichts anderes übriggeblieben, als mich in meinen Verstand zu flüchten und mit dem irgend etwas anzufangen, weil das Körperliche nichts hergegeben hat. Das war leer.“ M. E. Prigge hat für sich einen Ort gefunden, der ihre innere existentielle Situation als Landschaftsformation widerspiegelt. Dieser physische Ort bildet für sie einen Raum der Erkenntnis, einen Denkbezirk, vergleichbar den Schriften von Thomas Bernhard oder den Aphorismen von E. M. Cioran, die ihr eine geistige Ortung ermöglichen. Es ist ein Küstenstrich der Insel Fuerteventura, den sie seit Jahren immer wieder aufsucht. Dort kehrt sich ihr Innen sozusagen nach außen, und im Gehen erschließen sich Gedanken, die sich in Zeichen niederschlagen. Es ist ein Ort, der unbehaust und zeitlos ist, ein existenzialistischer Ort par excellence: auf einer Insel gelegen – ein ausgesparter, isolierter Raum; die Zone zwischen Wasser und Land – eine Grenzlinie, die sich kontinuierlich verändert; die schwarze Lavaküste – hart, verkrustet, erstarrt, zeitlos; das an den Strand pulsierende Wasser – in ständiger Bewegung, sisyphal, sich immer wieder neu bildend und auflösend; über Land und Wasser streicht ständig ein Wind, erzeugt Bewegung, ohne Ursprung, ohne Ziel; keine Spuren von Menschen, ihrer Geschichte, ihrer Anstrengungen. Manchmal wird von irgendwo übers Meer ein Stück Schwemmgut angetrieben, strandet. Ein unbestimmter, unbestimmbarer Gegenstand ohne Woher, ohne Wohin. Ein Stückchen materialierte Existenz – wie ein Zeichen auf einem Blatt Papier. Barbara Wally schrieb diesen Text 1995 für den Katalog M. E. Prigge „Denkbezirke“.